writingSchreibe Alternativ Losrechts

Ich möchte tun, was ich kann,
auch wenn ich nicht tun kann, was ich soll -
Lösungsorientierter Ansatz
in einem Problemorientierten Gesundheitssystem -
Erfahrungsbericht mit einer Krankheit, zu der es
im System immer noch zu wenig Erfahrung gibt

Meine Güte, was für ein langer Titel! Den muss man doch ganz oft lesen, bevor man einen Teil davon verstanden hat! Das kann ich doch nicht in einem Buch bringen, das von Long-Covid-Betroffenen für Long-Covid-Betroffene geschrieben ist! Das geht nie durch die Redaktion!

Also so kann ich keinen Text anfangen. Kann ich nicht? Ach je, ich kann so vieles nicht mehr, seit ich erst an Covid und dann an Long Covid erkrankt bin. Ich könnte längst aufgeben. Tu ich aber nicht. Meine Hauptaufgabe besteht seit meiner Erkrankung darin, zu sehen, was ich noch kann.

Das ist ganz schön gefährlich. Wenn ich nämlich nicht gut aufpasse und meine Grenzen einhalte, bin ich im guten Fall danach völlig erschöpft. Im schlechten Fall kommt danach ein Crash, der mich um Tage, Wochen oder Monate zurückwirft. Und ich will nicht wieder von vorne anfangen!

Also muss ich gut aufpassen. Pausen machen, bevor ich sie wirklich brauche. Das nennt man Pacing. Ich mag eigentlich keine Anglizismen. Aber wie sagt man das auf Deutsch? Maß halten? Das könnte im Oktober im Bierzelt missverstanden werden. Aber eigentlich trifft es das ganz gut. Aber um das Maß zu halten, muss ich es erst einmal finden.

Und das geht nur mit Try and Error. Ach ne, zu deutsch: Versuch und Irrtum. Dafür brauche ich Alarmzeichen. Nach einigen Versuchen habe ich gemerkt, dass ich ganz gut damit fahre, auf meinen Schwindel zu achten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Beim Autofahren kann ich mich darauf verlassen, dass der Schwindel so früh kommt, dass ich auf jeden Fall noch bis zum nächsten Rastplatz komme, bevor ich nicht mehr aufmerksam sein kann.

Also das Maß zu finden, hätte ich längst geschafft, wenn nicht jedes Mal die Tagesform daran rütteln würde. Auch das braucht Zeit, bis ich meine Tagesform abschätzen kann.. Jetzt kommen zwei Aufgaben auf mich zu: das Maß zu halten und das Maß anderen zu erklären.

Maß zu halten macht keinen Spaß. Lieber würde ich nach Lust und Laune so wie früher machen, was halt grad geht. Und in Ausnahmefällen mache ich das auch: bei Festlichkeiten, besonders schönen Orten und Zeiten, … Die Erschöpfung danach nehme ich gerne in Kauf. Aber zu oft darf ich das nicht machen. Ich will ja nicht mit einem Crash so weit zurückgeworfen werden.

Werte Leser, wenn Sie auch Long Covid, Post Vacc, ME/CFS oder eine andere Krankheit mit chronischer Fatigue haben, brauche ich Ihnen das eigentlich gar nicht sagen, aber wenn das ein anderer liest, wird es schwierig, ihm das zu erklären. Wo liegt mein Maß, und warum ist es so wichtig, dass ich mich daran halte?

Es ist ja schließlich nicht wie bei Psychischen Erkrankungen, dass ich etwas nicht kann, weil mir der Antrieb oder die Motivation fehlt. Ganz im Gegenteil, ich hab zu viel davon! Ich darf meiner Motivation nur nicht nachgehen, weil ich sonst ruck zuck meine Grenzen überschritten habe.

Das fällt den Laien in Verwandtschaft, Freundeskreis und Nachbarschaft genauso schwer zu verstehen wie den Profis. Hausärzte, Fachärzte, Therapeuten und Pfleger sind darauf genauso wenig vorbereitet. Sie finden keine spezifischen Marker, die meisten Diagnosen laufen ins Leere. Und ohne Diagnose keine Therapie.

Unser Gesundheitssystem ist darauf ausgelegt, Kranke und Behinderte so weit zu fördern, dass sie das Beste aus sich herausholen können. Mit diesem Aktivierungsansatz überfordern sie Fatigue-kranke Menschen aber völlig und bringen sie nicht dazu, langsam wieder mehr zu können, sondern schnell wieder weniger.

Wenn sie einsehen, dass sie nach dem altbewährten Muster nichts erreichen, sind sie ratlos. Und warten erst einmal ab. Uns Betroffenen machen sie damit das Leben zur Hölle. Wir fühlen uns nicht mehr gesehen, werden zu Außenseitern und Ausgestoßenen. Dahinter steckt keine böse Absicht, sondern fehlende Erfahrung und fehlende Konzepte.

Wenn wir auf Unterstützung von Krankenkasse, Pflegekasse, Rentenkasse, Arbeitsbehörde, Berufsgenossenschaft, Versorgungsamt und anderen Spielern im Gesundheitssystem warten, verlieren wir die Hoffnung. Und damit öffnen wir Psychischen Erkrankungen Tor und Tür. Zur Freude der Profis, denn dann wissen diese wieder, wie sie helfen können.

Was aber haben wir für Möglichkeiten? Manche können noch mehr schlecht als recht arbeiten, wenige davon in Vollzeit. Wer nicht mehr das arbeiten kann, was er vertraglich soll, kann entweder die Arbeit kürzen oder ganz kündigen / gekündigt werden. Die Rentenversicherung entscheidet über die Erwerbsfähigkeit nach Aktenlage, die Arbeitsagentur genauso. Solange ich also noch im System drin bin, bin ich aus der Arbeit draußen.

Dabei könnte ich doch noch was tun. Vielleicht schaffe ich es noch, den Haushalt zu schmeißen oder mich um Partner und Kinder zu kümmern. Das wird aber in unserem Gesellschaftssystem nicht anerkannt. Kindererziehungszeiten von Pubertieren sind sehr nervenaufreibend, werden aber nicht als Erwerbszeiten angerechnet.

Im Ehrenamt habe ich eher noch Möglichkeiten, Maß zu halten und trotzdem Teil der Gesellschaft zu bleiben. Und sofort fragen Außenstehende verständnislos: Warum kann der Kranke im Ehrenamt tätig sein, aber seiner geregelten Arbeit nicht mehr nachkommen? Warum kann er dies oder das noch tun, aber nicht mehr das, was er soll?

Und so komme ich zu meiner Überschrift: ich möchte noch das tun, was ich im Moment kann, auch wenn ich nicht mehr das tun kann, was ich auf dem ersten Arbeitsmarkt zu leisten habe. Ich möchte nicht länger von der Welt ausgeschlossen werden, sondern einen kleinen Beitrag liefern können.

Ich weiß, dass Long Covid in unserem Gesundheitssystem ein Problem darstellt, auf das es noch keine anerkannten Medikamente und Heilverfahren gibt. Aber was interessieren mich die Probleme des Systems, wenn ich Lösungen suche, wie ich innerhalb meiner (engen) Grenzen etwas für mich und andere tun kann?

Ich weiß, dass es im System immer noch zu wenig Erfahrung mit Long Covid gibt. Daher gebe ich gerne meine Erfahrungen weiter.