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Bonusmeilen

Meine Mutter ist gerne und viel gereist. Manchmal konnte sie meinen Vater dazu bewegen mitzukommen. Manche großen Reisen haben sie gemeinsam erlebt, so zum Beispiel nach Brasilien und Pakistan.

Die größte und wichtigste Reise machen sie seit über 50 Jahren gemeinsam. Das ist keine Hochzeitsreise. Die Hochzeitsreise stand weder ganz am Anfang, noch bestand das Leben für die beiden immer aus Hoch-Zeiten.

Sie lernten sich auf einer Reise kennen. Als mein Vater eine Jugendgruppe in eine Jugendherberge am Rande des Odenwalds führte, war das für damalige Verhältnisse eine Weltreise. Und ganz am Ende der Welt fand mein Vater eine bezaubernde junge Dame.

Diese Dame, die später meine Mutter wurde, half ihrer Tante, die die Jugendherberge am Rande des Odenwalds führte, in der Küche. Das war typisch. Ich weiß nicht, wie oft ich meine Mutter bei irgendwelchen Feiern in der Verwandtschaft in der Küche gesehen habe. Und das beileibe nicht als graues Mäuschen. Nein, selbst in unbekanntem Terrain, wie neulich mitten in der tiefsten Rhön, schwingt sie gleichzeitig Schöpflöffel und Zepter.

Ich habe mich schon öfter mal gefragt, wie mein Vater es schaffte, die Aufmerksamkeit meiner Mutter zu gewinnen. Zumal er ernsthafte Konkurrenz hatte. Ich vermute, dass einfach beide das Herz am rechten Fleck hatten und haben, und dass sie das auch gemerkt haben. Damit konnten sie auch die damals unheimlich weite Entfernung zwischen Odenwald und Rheinland bewältigen.

Und mein Vater hat als einziger in seiner Familie das Gen geerbt, dass dafür verantwortlich ist, dass sich in jeder Generation einer aus der Sippschaft aus seiner Heimat löst und meilenweit entfernt niederlässt. Allerdings hat er das Gen an seine Kinder zu gleichen Teilen weiter vererbt, die sich in der Rhön, im Harz und in der Eiffel niedergelassen haben.

Seiner Berufung, Jugendliche in fremde Länder zu führen, ist mein Vater weiter meilenweit treu geblieben, als er die Caritas-Ferienerholungsmaßnahmen in Südtirol über ein Jahrzehnt geleitet hat. So ist es auch kein Wunder, dass er ausgerechnet in Südtirol die einschneidendste Kehrtwende seines Lebens erleben musste: einen Herzinfarkt. Er führte dazu, dass er sein Leben radikal änderte. Unter anderem hat er seitdem weniger größere Reisen gemacht. Nicht kleinere, aber weniger. 

Wenn 25 Jahre zuvor die Reise vom Rheinland in den Odenwald eine Weltreise war, so ist die Welt in dieser kurzen Zeit wahnsinnig geschrumpft. Denn zur Silberhochzeit war der Besuch bei Father Emmanuel in Pakistan auch kein viel größeres Unterfangen. Im Gegenteil, manchmal glaube ich, mein Vater hat mit Englisch und Urdu weniger Probleme als mit dem Odenwälder Dialekt.

Eine andere Weltreise brachte für meine Mutter eine ähnlich einschneidende Wende. Wie oft haben wir uns gefragt, wie ihr Leben weiter verlaufen wäre, wenn diese Mücke in Brasilien sie nicht gestochen hätte. So aber hatten die ganzen erfolglosen Untersuchungen so ganz nebenbei dazu geführt, dass bei meiner Mutter so frühzeitig Krebs festgestellt wurde, dass man sie noch retten konnte. Auch wenn mancher Arzt es kaum glauben mag: meine Mutter lebt.

Es ist wohl kein Zufall, dass unsere ganze Familie sich immer wieder mit dem Leben und Sterben beschäftigt hat. Meine Eltern und ich haben im gleichen Altenheim gearbeitet, meine Mutter und meine Schwester sind in einer Hospizbewegung aktiv und mein Bruder hat sich als Soldat in Kampfgebieten im Kosovo und in Afghanistan aufgehalten.Wir sind dem Sterben näher als andere Familien. Und damit vielleicht auch dem Leben.

Meine Eltern sind am Ende ihrer Reise angelangt. Mein Vater würde ohne Dialyse nicht mehr leben und auch meine Mutter kann nicht mehr ganz so viel unternehmen, wie sie gerne möchte. Aber jeder Weltreisende hat bei Lufthansa oder anderen Airlines eine wichtige Lektion gelernt: je mehr man reist, desto mehr Bonusmeilen kann man sammeln.

Und wo andere aufhören zu reisen, da fangen meine Eltern erst richtig an. Meine Mutter nimmt das wörtlich und färt jedes Jahr mehrmals dahin, wo der Wind sie trägt. Mein Vater macht das eherim übertragenen Sinn, wenn seine Gespräche und Gedanken Grenzen überwinden, wie er es sich schon oft gewünscht hatte.

Von seinem Stock lässt er sich nicht abhalten, Kinder in den Arm zu nehmen, von seinem Rollator lässt er es sich nicht nehmen, Mütter in den Arm zu nehmen, und mit Post und eMails lässt er es sich auch nicht nehmen, gestandene Männer in Kirche, Politik und Gesellschaft auf den Arm zu nehmen.

Ich habe mich oft gefragt, warum manche Leute nicht gerne reisen. Warum sie an Standorten und Perspektiven festhalten. Ist die Sicherheit, die sie nicht aufgeben wollen, die Bequemlichkeit, die sie nicht ablegen wollen, die Ruhe, die sie nicht stören wollen, so wichtig?

Wenn mir Sicherheit, Bequemlichkeit und Ruhe so wichtig wären, dann hätte ich den Mutterschoß nie verlassen dürfen. Aber Gott hat mich meinen Eltern geschenkt, Gott mir meine Eltern geschenkt, damit ich Sicherheit, Bequemlichkeit und Ruhe aufgebe und mich auf die Reise meines Lebens mache.

Und vielleicht gewährt er mir auch die Gnade, so viele Bonusmeilen zu sammeln wie meine Eltern.